Bild: www.iStock.com / Massimo Merlini, StudioM1
Wie schnell der Klimawandel die Alpengletscher schmilzt, zeigen die 120 Jahre alten Gebirgskarten des vielseitigen Wissenschaftlers Sebastian Finsterwalder. Vom Heißluftballon aus, mithilfe von Fotos oder mühsam zu Fuß vermisst er Jahrzehnte lang die Berge. Er entwickelt dafür geometrische Methoden, die noch immer von Bedeutung sind. Denn mit ihnen arbeiten Algorithmen moderner 3D-Software.
Mit Steigeisen, Pickel und Messinstrumenten besteigt der junge Mathematiker und Geodät Sebastian Finsterwalder 1889 die Ötztaler Alpen, zusammen mit zwei Forscher-Kollegen und einem Träger. Ein mühsames und gefährliches Unterfangen. Sie vermessen wochenlang Moränenkämme, Fernerränder, Bruchlinien, Felsecken – und erstellen so die erste exakte Karte des Vernagtferner-Gletschers. Drei Jahre später, 1892, lehrt Finsterwalder bereits als Professor an der Technischen Hochschule München. Und kartiert als erster alle bayerischen Gletscher im Wettersteingebirge und den Berchtesgadener Alpen – zu Fuß und mit dem Heißluftballon.
Finsterwalders wissenschaftliches Lebenswerk als Geometer und Geodät, als Physiker und Ingenieur ist heute von unschätzbarem Wert. Seine Gebirgskarten machen beispielsweise deutlich, wie weit der Klimawandel die Alpengletscher in nur 120 Jahren abgeschmolzen hat. Sein mathematisches Vorgehen gibt der Vermessung der Erdoberfläche entscheidende wissenschaftliche Grundlagen. Er bedient sich aller Finessen der darstellenden Geometrie, um ein genaues Bild der Landschaft zu bekommen – nur mit Fotos, Zeichnungen und so wenig echten Messungen wie möglich. So entdeckt er Verfahren, die noch heute wichtig sind: ob für die Satelliten-Vermessung oder die 3D-Software von Ingenieurbüros, sogar für Computerspiele, Animationsfilme und 3D-Kinos.
Hinter jeder dreidimensionalen Darstellung am Computer arbeiten heute Algorithmen mit Finsterwalders Berechnungsverfahren. Was er „Rückwärtseinschneiden im Raum“ nennt, versteckt etwa in CAD-Programmen die unsichtbaren Linien hinter einem Objekt: als Hidden-Line-Algorithmus. Methoden, die der Mathematiker in seinen Abhandlungen beschreibt, sind noch in Gebrauch. Nur ist es heute vor allem Software, die mit ihnen rechnet.
Die Form eines Bergs zu bestimmen, ohne ihm nahe zu kommen, nur mit zwei Fotos aus dem Tal oder aus einem Heißluftballon – dazu führt Finsterwalder die terrestrische Photogrammetrie ein. Er nutzt dafür den stereoskopischen Effekt, ähnlich wie beim räumlichen Sehen: Das gleiche Objekt betrachtet er aus zwei verschiedenen Positionen, die sich in geringem Abstand voneinander befinden. Anhand der relativen Objektwinkel ermittelt er dann die dreidimensionalen Koordinaten des Objekts. Heute kommt für dreidimensionale Modelle aus Satelliten-, Radar-, oder Luftbildern fast immer noch die Photogrammetrie zum Einsatz.
Von 1850 bis heute schrumpfen die Gletscher der Alpen auf ein Drittel ihres damaligen Volumens und auf die Hälfte ihrer Fläche. Als Finsterwalder 1889 den Vernagtferner vermisst, kann er diese Entwicklung noch nicht erahnen. So berichten er und seine Forscher-Kollegen abends auf der Hütte faszinierten Touristen, dass der Gletscher 40 Jahre zuvor noch zwei Kilometer länger gewesen sei – aber dass er sicher bald wieder wachse. Die globale Erwärmung hatte noch nicht begonnen. Damals schwankte das Klima im Schnitt noch alle 35 Jahre zwischen kühlfeucht und warmtrocken, wie ein Meteorologe wenig später belegen sollte.
„Niemals hielt er [Sebastian Finsterwalder] mit seinen Ideen zurück, niemals dachte er daran, wirtschaftliche Auswertungsmöglichkeiten sich selbst durch Patente zu sichern, sondern stellte die Früchte seines Geistes seinen Freunden, Schülern und der Öffentlichkeit stets vorbehaltlos und uneigennützig zur Verfügung.“
Zitat von Geodät Otto von Gruber, 1937, zum 75. Geburtstag von Sebastian Finsterwalder
Foto Sebastian Finsterwalder: Österreichischer Alpenverein